„Die Arbeitsbedingungen in Katar waren kein Thema“: Vier Erkenntnisse aus der Doku FIFA Uncovered

Im September 2010 reiste Harold Mayne-Nicholls nach Doha, Katar. Damals war er der Vorsitzende einer Fifa-Kommission, die die Bewerbung von Katar um die Fußball-Weltmeisterschaft prüfen sollte. Zusammen mit anderen Fifa-Delegierten schaute sich Mayne-Nicholls das Land an. Und schrieb am Ende einen Bericht darüber, der vereinfacht gesagt eine Frage beantworten sollte: Ist Katar ein geeigneter Gastgeber für eine WM? Die Antwort darauf fiel ernüchternd aus.

Der Fußball hat in Katar keine Tradition. Für eine WM müssen nicht nur neue Stadien gebaut werden. Sondern auch Hotels für die Teams und Tourist*innen. Das größte Problem: Die Temperaturen in Katar sind im Mai, Juni und Juli viel zu hoch, um Fußball zu spielen. Fast 50 Grad Celsius. Mayne-Nicholls war sich sicher: Eine WM wird nicht in Katar stattfinden.

Mayne-Nicholls schickte seinen Bericht an das Fifa-Exekutivkomitee: 24 Männer, die über den Austragungsort der WM abstimmen sollten. Jeder von ihnen hätte Mayne-Nicholls anrufen und um eine Erklärung bitten können. Doch niemand rief an. Heute, ungefähr zwölf Jahre später, sagt Mayne-Nicholls, dass er daraus nur eine Sache schließen konnte: Nicht alle Mitglieder hatten den Bericht gelesen. „Und wenn es ihnen egal war, wie man im Sommer dort spielen soll, warum sollten sie sich dann für die Arbeitsbedingungen in Katar interessieren?“

Diese Geschichte erzählt Harold Mayne-Nicholls in FIFA Uncovered. In der neuen vierteiligen True-Crime-Doku geht es um die Geschäfte des Weltfußballverbands. Um die Vorwürfe:  Gier, Machtmissbrauch, Korruption, Steuerhinterziehung, Bestechung und Verrat. Und um die Frage, warum die WM 2022 in einem Land stattfindet, das Frauen unterdrückt, Homosexualität unter Strafe stellt, Menschen auspeitschen und steinigen lässt, und seine Gastarbeiter*innen wie Sklaven behandelt. Expert*innen schätzen, dass allein beim Bau der Hotels und Stadien für die WM in Katar tausende Gastarbeiter*innen gestorben sind. FIFA Uncovered ist ein erschütterndes Dokument, das sich all jene anschauen sollten, die noch überlegen, ob sie bei der WM 2022 einschalten sollten.

Zum Start der Doku stellen wir Euch vier Erkenntnisse aus FIFA Uncovered vor. Wer sich die Doku anschaut, wird noch viel mehr über die Fifa lernen. Unter anderem: Was Adidas mit den schmutzigen Geschäften des Weltfußballverbands zu tun hat.

Warum findet die WM 2022 in Katar statt?

Am 2. Dezember 2010 hat die Fifa das Gastgeberland der WM 2022 bekannt gegeben. Katar setzte sich dabei gegen vier andere Mitbewerber durch: die USA, Australien, Südkorea und Japan. Für viele kam die Wahl von Katar unerwartet. Das Land galt als Underdog. Die USA waren der klare Favorit.

Ein Journalist in FIFA Uncovered sagt dazu: „Ich war geschockt. Wie viele andere auch. Warum will man in einem so heißen Land spielen, das extra Stadien bauen muss? Und dessen Mannschaft auf der Weltrangliste weit unten steht? Ganz zu schweigen von den Arbeitsbedingungen, den Menschenrechten und der Frage, ob europäische Fans überhaupt dort hinreisen können?“ Sogar der damalige Fifa-Präsident Sepp Blatter war gegen Katar.

Old, rich men: Mitglieder der Fifa

Doch: Wer hat eigentlich für Katar gestimmt? Um diese Frage zu beantworten, muss man sich das System Fifa genauer anschauen: In jedem Land, das Mitglied bei der Fifa ist, gibt es einen nationalen Fußballverband. In Deutschland etwa: den DFB. Die nationalen Fußballverbände sind jeweils einem von sechs Kontinentalverbänden angeschlossen. In Europa: die UEFA. Jeder Kontinentalverband ernennt eine Anzahl von Delegierten, die das Führungsgremium der Fifa bilden. Damals, im Jahr 2010, nannte man das Führungsgremium noch Exekutivkomitee. Es bestand aus insgesamt 24 Mitgliedern. Diese Männer trafen die wichtigsten Entscheidungen für die Fifa. Unter anderem: Wo die WM ausgetragen wird. Die Macht des ExKo war riesig. Oder wie ein Ex-Mitglied in Fifa Uncovered sagt: „Es war die mächtigste Institution im Fußball. Und stand ganz oben an der Spitze der Pyramide.“

Ein Mann, der für ein Fifa-nahes Marketingunternehmen gearbeitet hat, findet in der Doku noch deutlichere Worte. Er sagt: „Die Vergabe einer Weltmeisterschaft hätte niemals allein vom Exekutivkomitee beschlossen werden dürfen.“ Denn das Komitee habe seine Macht im höchsten Maße missbraucht. „Wenn es keinerlei Kontrolle, keine Gewaltenteilung gibt, wenn niemand überprüft, was man tut, und man sich für nichts rechtfertigen muss, dann ist das ein Freifahrtschein.“

14 Mitglieder des Exekutivkomitees stimmten im Dezember 2010 bei einer Stichwahl zwischen Katar und den USA für Katar. Ein Mitglied des Kontinentalverbands von Nord- und Zentralamerika sowie der karibischen Inseln (kurz: CONCACAF) stimmte sogar für Katar – und damit gegen die USA und seinen eigenen Heimatverband. Die Ex-Frau eines ehemaligen Fifa-Funktionärs sagt dazu in der Doku: „Diese Männer waren alt. Bei der nächsten Wahl würden sie nicht mehr dabei sein. Es war Zahltag.“ In anderen Worten: Sie wirft ihnen vor, sie hätten sich schmieren lassen. Und ist mit diesem Verdacht nicht allein.

Hat Katar die WM gekauft?

Zehn Monate vor der WM-Abstimmung im Dezember 2010 sponserte Katar den afrikanischen Fußball-Kongress in Angola. Hassan Al-Thawadi, der Generalsekretär der Fußball WM in Katar, hielt dort auch eine Rede. In FIFA Uncovered bezeichnet er die Tage in Angola als einen Schlüsselmoment in der Bewerbungsphase von Katar. Er lobt sich selbst und sagt: „Meine Botschaft kam sehr gut an. Und man fing an, uns als ernstzunehmenden Kandiaten zu betrachten.“

Hände schütteln und Reden halten: Einer Whistleblowerin zufolge ist in Angola noch deutlich mehr passiert. In Fifa Uncovered erzählt sie, dass Hassan Al-Thawadi mehrere Mitglieder des Exekutiv-Komitees in seiner Hotelsuit begrüßt haben soll. Drei Mitgliedern, sagt die Whistleblowerin, habe Al-Thawadi  jeweils 1,5 Millionen Euro für ihre nationalen Fußballverbände angeboten – im Gegenzug für ihre Stimmen. Sie betont aber auch, dass sie das Geld nie gesehen habe. „Es wurde nur darüber gesprochen. Und es wurde sehr deutlich gesagt, dass das Geld für den Fußball bestimmt war. Es sollte nicht in irgendjemandes Tasche verschwinden. Aber wo es dann gelandet ist: keine Ahnung.“ Dieses Vorgehen soll laut FIFA Uncovered System gehabt haben: Katar soll vor der Wahl immer wieder Gefälligkeiten mit Fifa-Delegierten ausgetauscht haben.

Solche Deals sollen nicht nur in Hotelzimmern stattgefunden haben. Sondern auch auf Regierungsebene. So hat sich der damalige UEFA-Präsident Michel Platini wenige Woche vor der WM-Wahl mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy und dem Sohn des Emirs von Katar zum Mittagessen getroffen – und zwar im Élysée-Palast in Paris. Laut FIFA Uncovered soll Platini einen großen Einfluss darauf gehabt haben, welches Land die europäischen Delegierten im Dezember 2010 wählen würden. Was genau beim Treffen im Élysée-Palast besprochen wurde, ist unklar. Es existieren mehrere Versionen. Platinis geht so: Er habe von Sarkozy eine „unterschwellige Botschaft“ erhalten, dass es im Interesse Frankreichs wäre, für Katar und nicht für die USA zu stimmen.

Proteste gegen die WM in Katar

„Es ist wirklich bemerkenswert, was passiert ist, nachdem Platini für Katar gestimmt hat“, sagt der Journalist David Conn an einer Stelle in FIFA Uncovered. „Der katarische Immobilienfonds kaufte Paris Saint-Germain, den wichtigsten Fußballverein von Paris und investierte gigantische Summen. BeIN-Sports, ein Fernsehsender aus Katar, erwarb für viel Geld die Fernsehrechte am französischen Fußball.“

Frankreich und Katar schlossen noch weitere lukrative Verträge ab, die nichts mit Fußball zu tun haben. Etwa über den Verkauf mehrerer französischer Airbusse an Katar. „Die Entscheidungen, die dazu führten, dass die WM nach Katar ging, wurden auf allerhöchster politischer Ebene getroffen“, sagt Conn. Katar selbst streitet ab, dass es irgendwelche Unregelmäßigkeiten gegeben habe.

Doch eine Sache sollte man bei all der Kritik an Katar nicht vergessen, wie ein Berater von Ex-Fifa-Präsident Sepp Blatter in FIFA Uncovered klar stellt: „Man darf nicht Katar vorwerfen, die Weltmeisterschaft auszurichten. Die Schuld liegt bei der Fifa. Die Fifa schafft dieses System.“ Man könnte auch sagen: Damit man eine WM kaufen kann, braucht man auch jemanden, der sie verkauft.

Was hat Katar von der WM?

Die WM ist das größte Fußballereignis der Welt. Mit ihr verdient die Fifa nicht nur viel Geld. Die WM verleiht der Fifa auch Macht. Macht, die zu Korruption verführen kann. Aber was hat eigentlich Katar von der WM? Auch darauf gibt FIFA Uncovered eine Antwort: Die WM ist das einzige Sportgroßereignis, das in fast jedes Land auf der Welt übertragen wird. Sie lockt Millionen Menschen auf die Straße und vor den Fernseher. „Die Länder überschlagen sich förmlich, um die WM bei sich auszurichten“, sagt der Journalist David Conn in FIFA Uncovered. „Denn damit können sie ein Image kreieren, wie mit sonst nichts auf der Welt.“

Gerade Unrechtsregime haben daran ein großes Interesse. Durch eine WM können sie ihr Image aufpolieren. Sie können sich als gastfreundlich, weltoffen und fortschrittlich präsentieren. Es gibt dafür sogar einen Fachbegriff: Sportswashing. Gerade heute, sagt David Conn in FIFA Uncovered, sei Sportswashing besorgniserregender denn je. „Der Sport lässt sich von Regimen kaufen, die Menschenrechtsverletzungen begehen – statt seine Macht zu nutzen, um dagegen Stellung zu beziehen.“

Sportswashing ist kein Phänomen der letzten Jahre. Das berühmteste Beispiel für Sportswashing sind die Olympischen Spiele von 1936 in Berlin. Deutschland präsentierte sich der Weltöffentlichkeit damals als freundliches und modernes Land. Tatsächlich plante das NS-Regime schon den Angriffskrieg im Osten. Auch der Fußball wird immer wieder für Sportswashing genutzt. Wie bei der WM 2018 in Russland. Und jetzt in Katar.

Links: Sepp Blatter, Fifa Präsident von 1998 bis 2016. Rechts: João Havelange, Fifa-Präsident von 1974 bis 1998

Der erste Fall von Sportswashing in der Geschichte der Fifa war die WM 1978 in Argentinien. Zwei Jahre zuvor, 1976, hatte sich in Argentinien eine faschistische Militärjunta an die Macht geputscht. Gegner*innen der Diktatur wurden ermordet. Schätzungen zur Folge starben zwischen 15.000 und 30.000 Menschen. Im Vorfeld der WM 1978 gab es zwar Boykottaufrufe. Doch kein Land kam ihnen nach.

Laut FIFA Uncovered betonte der damalige Fifa-Präsident João Havelange immer wieder, dass man Fußball und Politik trennen müsse. Und dass die Fifa ein überparteiliches und unpolitisches Gremium sei. Eine mehr als zynische Aussage, wie ein argentinischer Journalist in der Doku anmerkt: „João Havelange organisierte ein WM-Finale im Estadio Monumental in Buenos Aires – knapp 500 Meter entfernt vom Gefängnis der argentinischen Marine-Akademie, wo Gegner der Diktatur gefoltert und getötet wurden.“

Ist die Fifa immer noch korrupt?

2015 verhaftete die Schweizer Polizei auf Betreiben des US-Justizministeriums mehrere Fifa-Funktionäre in Zürich. Darunter auch Mitglieder des Vorstands. Es war einer der größten Skandale in der Geschichte der Fifa. Die 47 Punkte lange Anklageschrift enthielt unter anderem Vorwürfe wegen Erpressung, Überweisungsbetrug und Geldwäsche. Ein Journalist von der New York Times sagte damals: Solche Anschuldigungen höre man sonst im Zusammenhang mit der Mafia oder mexikanischen Drogenkartelle.

Seitdem sind über sieben Jahre vergangen. Manche Fifa-Funktionäre mussten sich vor Gericht verantworten und kamen ins Gefängnis. Viele andere nicht. Der damalige Präsident Sepp Blatter trat 2016 zurück. Und wurde bis 2028 für die Fifa und alle Tätigkeiten im Fußball gesperrt. Einsichtig zeigt er sich nicht. In FIFA Uncovered sagt er: „Mein Gewissen ist rein. Und ich kann nachts gut schlafen. Ich bedaure, was passiert ist. Aber ich bin nicht dafür verantwortlich.“

Von den 22 Mitgliedern des Exekutivkomitees, die über die WMs von 2018 und 2022 entschieden haben, ist nur noch eines bei der Fifa. Der neue Fifa-Präsident heißt Gianni Infantino. Anfang des Jahres berichtete eine Schweizer Zeitung, dass Infantino seinen Lebensmittelpunkt von der Schweiz in ein anderes Land verlegt habe. Der Name des Landes: Katar.

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