We Have a Ghost: Wo bleibt das Gruseln, wenn ein Geist viral geht?

Niemand hält es lange in diesem alten, renovierungsbedürftigen Haus aus. Die Umzugswagen rollen fast schneller an, als die Schreckensschreie aus den Mündern der Bewohner kommen. Das Haus des Todes, nennt es das Nachbarsmädchen Joy (Isabella Russo).

Kevin Presley (Jahi Winston) lässt sich davon nicht beirren. Im Gegenteil: Kurz nachdem er mit seiner Familie eingezogen ist, steigt der Teenager auf den verstaubten Dachboden und schaut sich um – als tatsächlich eine Gestalt auftaucht, muss er lachen. „Buhu“ und „Wohaa“ stöhnt  Geist Ernest (Stranger Things-Schauspieler David Harbour) bemüht. Doch Kevin zückt bloß cool die Handykamera und blickt fasziniert auf das leicht durchsichtige Wesen, das in dem schwach beleuchteten Raum wirkt wie ein leuchtender Homer Simpson. Grusel? Davon kann hier keine Rede sein.

Der neue Film We Have a Ghost ist auf Netflix unter den Rubriken Familie und Teen zu finden. Dabei ist US-Regisseur und Drehbuchautor Christopher Landon vor allem für Horror- und Slasher-Filme wie Paranormal Activity und Freaky bekannt. Hat er sich mit seinem neuesten Werk in ein anderes Genre gewagt? Oder funktioniert Horror bei den Kids nicht mehr?

Furcht vor dem Unbekannten

Im Handbuch Filmgenre steht: „Der Horrorfilm zielt darauf ab, bei Zuschauer*innen Angst und Ekel auszulösen“. Wer einmal im Internet nach Angst googelt, weiß: Die größte Furcht ist die vor dem Unbekannten. „Grundsätzlich werden Gefahrenquellen umso riskanter eingeschätzt, je weniger man mit ihnen vertraut ist, je unbekannter und unkontrollierbarer sie sind“, heißt es im Sachbuch Risiko im Management etwa. Und weiter: „Früher waren dies Hexen oder zürnende Götter, später etwa Lokomotiven oder Automobile und heute Themen wie selbstfahrende Autos, Elektrosmog [...] gentechnisch veränderte Lebensmittel.“

Eine moderne Familie mit Handy: Vater Frank (Anthony Mackie), Mutter Melanie (Erica Ash), Fulton (Niles Fitch) und Kevin (Jahi Winston).

Der Geist Ernest in We Have a Ghost jagt der modernen Familie Presley, zu der Kevins Mutter Melanie (Erica Ash), Vater Frank (Anthony Mackie) und Bruder Fulton (Niles Fitch) gehören, keinen Schrecken mehr ein. Haben sie alles schon zig mal in Filmen und im Internet gesehen. Frank lädt das Geister-Video ganz zeitgemäß auf YouTube hoch und innerhalb kurzer Zeit bildet sich keine Schreckens-, sondern eine Fangemeinde. Der Geist als Influencer, ein finanzieller Gewinn für die Presleys. Schaurig wird es höchstens, als Ernest sein Gesicht in Fetzen reißt, um Medium Judy Romano (Jennifer Coolidge) ernsthaft zu erschrecken. Ihr Besuch endet mit dem Sprung aus dem Fenster. High Five für Kevin. Noch mehr Follower für Frank.

Christopher Landon spielt mit der Social Media Nutzung

We Have a Ghost-Regisseur Christopher Landon sagte gegenüber Netflix, dass sich durch den Einsatz von Social Media die Gelegenheit bot, die „Internetkultur und die Art und Weise, wie die Menschen auf Dinge reagieren, auf relativ harmlose Weise auf die Schippe zu nehmen“ – „Wir leben offensichtlich in einem Zeitalter, in dem nichts wirklich passiert, es sei denn, es wird auf dem Handy aufgezeichnet.“

In Horrorfilmen und Thrillern wird seit einigen Jahren mit Social Media, Daten und Apps gespielt. In der Netflix-Serie You ist es das digitale Spionieren auf den sozialen Kanälen – in dem koreanischen Netflix-Film Unlocked das Hacken der Handys. Sich mit Tools über das einstige Angstobjekt lustig zu machen, ist allerdings nicht neu. Schon Oscar Wilde tat dies in Das Gespenst von Canterville. In der 1887 erschienenen Kurzgeschichte wurde dem altmodischen Hausgespenst mit modernen Putzmitteln und Kettenöl sein Schrecken genommen. Was damals Pinkertons Fleckentferner war, ist in We Have A Ghost YouTube.

We Have a Ghost erschien bei Vice

Christopher Landon hat dem US-Magazin Inverse verraten, dass er bei We Have a Ghost interessanterweise nicht an eine weitere Grusel-Produktion dachte. „Ich bin nicht nur der Low-Budget-Horror-Typ“, sagte er. „Ich wollte den Leuten beweisen, dass ich einen Big-Budget-Film und einen Familienfilm machen kann.“

We Have a Ghost sei eine Geschichte, die der Regisseur schon seit Jahren erzählen wollte. Sie erschien zunächst bei dem Lifestyle-Magazin Vice, geschrieben von dem US-Autor Geoff Manaugh. Landon adaptierte sie, rückte Kevin noch mehr in den Fokus. Mitgefühl treibt den Film an. In der Kurzgeschichte beschreibt es Geoff Manaugh wiederum so: „Hin und wieder, sagte Ernest zu Kevin, triffst du jemanden, der helfen will. Du triffst jemanden, der gut ist.“  

In Landons Film kann Ernest zwar nicht sprechen – wie sich der Geist und der Junge ansehen, unterstreicht jedoch die Verbundenheit der beiden. Ihrer Freundschaft ist es zu verdanken, dass die Männer auf ihre Art wachsen. Am Ende ist We Have a Ghost damit höchstens ein Schocker für all jene, die keine happy Endings bei Geisterfilmen kennen.

Netflixwoche Redaktion

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