Treten Sie näher: Die 10 besten Kammerspiele auf Netflix

Großer Effekt geht auch ohne große Effekte. Manchmal reichen ein einziger Schauplatz und eine Handvoll starker Charaktere, um eine packende Geschichte zu erzählen. Das ist die Schönheit und gleichzeitig die Herausforderung der sogenannten Kammerspiele. Kleine Schwächen können nicht einfach mit CGI oder spektakulären Kulissen kaschiert werden. Hier muss alles stimmen, jedes noch so kleine Detail. Wenn das gelingt, entstehen Filme mit einzigartiger Sogwirkung.

Kammerspiele: Woher kommt das Filmgenre?

Das Genre des Kammerspielfilms hat sich, Überraschung, aus dem gleichnamigen Theater-Setting entwickelt. Es ist ein eisernes Gesetz der Unterhaltungsbranche: Was auf einer Bühne funktioniert, wird irgendwann auch auf die Leinwand gebracht. In diesem Fall lag der Schritte besonders nahe, schließlich reibt sich bei Kammerspielfilmen das Controlling die Hände. Es braucht keinen großen Cast, kein aufwändiges Bühnenbild, kein Reisebudget – einfach nur eine gute Geschichte und gute Dialoge. In Deutschland war diese Form des Filmemachens besonders in der Weimarer Republik beliebt.

Heute wird das Kammerspiel auf der Leinwand etwas lockerer definiert als auf der Bühne. Manchmal sind vereinzelte Nebenschauplätze zu entdecken, das Prinzip ist über die Jahre immer dasselbe geblieben. Hier geht’s um das Innen, nicht um das Außen. Dabei werden einzelne Objekte zu Metaphern, kleine Handlungsstränge zu Sinnbildern für große gesellschaftliche Fragen.

Diese Kammerspiele auf Netflix zeigen, dass eine packende Geschichte nicht viel braucht:

Malcolm & Marie (2021)

Wie viel Ich verträgt das Wir? Malcolm und Marie versuchen, die Antwort zu finden. Der Filmemacher Malcolm kehrt nach einem Premierenabend mit seiner Freundin nach Hause zurück. Es passiert: Beziehung. Immer wieder wird das Paar dabei von der Vergangenheit eingeholt, von Erinnerungen der Verletzung, die zurückkommen wie ein Boomerang. Rasante Tempowechsel und die eindrückliche Performance von John David Washington und Shooting-Star Zendaya ziehen Zuschauende tief rein in das Haus von Malcolm & Marie, auf deren Sofa, selbst in deren Badewanne. Dabei sind beide Charaktere ähnlich problematisch. Sie machen wütend, sie unterhalten und sind an manchen Stellen toxisch, an anderen reflektiert. Das passt zum Zeitgeist, denn spätestens seit den letzten zwei Jahren wissen wir: Es braucht nicht mehr als zwei Personen in vier Wänden, um die größten Dramen freizusetzen.

I’m thinking of ending things (2020)

Filmemacher Charlie Kaufman gilt als einer der kreativsten und unkonventionellsten Köpfe Hollywoods. Warum, das zeigt der Regisseur und Autor mit I’m thinking of ending Things ein weiteres Mal: Darin spielt eine Frau (Jessie Buckley) mit dem Gedanken, ihre erst ein paar Wochen andauernde Beziehung zu ihrem Freund (Jesse Plemons) zu beenden. Obwohl scheinbar alles gut läuft, obwohl sie sich wirklich mögen. Trotz ihrer Bedenken machen sie sich auf den Weg, seine Eltern zu besuchen. Dabei driftet der Plot immer weiter ins Surreale: wechselnde Biographien, plötzlich alternde Menschen, Traumsequenzen und unendlich viele popkulturelle Referenzen machen den Film zu einer Mischung aus Psychothriller, Drama und surrealem Kammerspiel. Das Wichtigste aber: Kaufman-Filme dürfen sich niemals sinnvoll in wenigen Sätzen zusammenfassen lassen. Also einfach diesen Absatz vergessen und gucken.

The Guilty (2021)

Jake Gyllenhaal hat Erfahrung mit vorbelasteten Ermittlern. Deshalb kann er im Kammerspiel-Remake The Guilty punkten: Darin spielt er den Polizisten Joe Baylor, der im Notruf-Dienst der Polizei von L.A. eingesetzt wird, während in den Wäldern der Stadt ein Feuer wütet. Dass er nicht freiwillig dort sitzt, ist ab den ersten Minuten klar. Der Anruf einer Frau weckt plötzlich sein Interesse, sie wirft ihm einzelne Puzzle-Teile einer Geschichte hin, die auf eine Entführung hinweisen. Baylor setzt in der Notrufzentrale alles daran, den Fall aufzuklären, um Schlimmeres zu verhindern. Währenddessen entfaltet sich die komplizierte Geschichte des Ermittlers, die seine aggressive Art, sein wütendes Vorgehen und die Beharrlichkeit erklären. Wer hier gut oder böse ist, müssen Zuschauende bis zur letzten Minute selbst ausloten.

The Hateful 8 (2015)

Ein Blizzard in Wyoming zwingt zwei Kopfgeldjäger und deren Gefangene dazu, einige Stunden in einer Hütte mit fünf ruchlosen Fremden zu verbringen. Alle Anwesenden sind vom kürzlich beendeten Bürgerkrieg gezeichnet, sie alle triefen vor Hass, Missgunst und Rachsucht: The Hateful 8. Regisseur und Drehbuchautor Quentin Tarantino entfaltet hier ein Kammerspiel, das die Herzen seiner Fans höher schlagen lässt. Das hier ist classic Tarantino: Einzigartige Dialoge voll brachialen Humors treffen auf völlig überzeichnete Gewalt. Dabei wäre der achte Film des Kult-Regisseurs beinahe vereitelt worden, als 2014 das gesamte Drehbuch geleakt wurde. Zum Glück hat sich der Meister doch noch für eine Umsetzung entschieden – und uns damit ein Kammerspiel beschert.

Criminal (2018)

Mehrteilige Kammerspiele stehen vor der großen Herausforderung, Zuschauende über einen langen Zeitraum mit wenigen Szenenwechseln vor dem Bildschirm zu halten. Der Miniserie Criminal gelingt das: Die Crime-Anthologie widmet sich Kriminalfällen in vier Ländern, unter anderem auch in Deutschland. Wir sehen Verhöre, in denen die Grenzen des Legalen ausgelotet werden und die immer mehr zu psychologischen Kaleidoskopen werden. Das ist düster und hochspannend. Vor allem in der deutschen Folge bestechicht auch die Besetzung mit Sylvester Groth und Florence Kasumba.

The Woman in the Window… (2021)

Protagonistin Anna (Amy Adams) leidet unter Agoraphobie. Sie fällt in Angstzustände, sobald sie das Haus verlässt. Irgendwann zieht jedoch die Familie Russell gegenüber ein. Anna interessiert sich für die Russells, findet Vertrauen – bis sie an einem Abend Zeugin eines Verbrechens wird. In The Woman in the Window… verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Paranoia. Die Messlatte für diese Art von Setting ist seit Alfred Hitchcocks Suspense-Klassiker Das Fenster zum Hof (1954) geradezu unüberwindbar. Vor allem die sechsfach Oscar-nominierte Amy Adams macht aber auch aus dieser Romanverfilmung ein Spektakel.

Ma Rainey’s Black Bottom (2020)

1927 in einem Musik-Studio in Chicago: Die exzentrische Mutter des Blues, Ma Rainey (Viola Davis), steht am Höhepunkt ihrer Karriere. Für eine Aufnahmesession trifft sie auf eine Band rund um den eigensinnigen Trompeter Levee (Chadwick Boseman). Die Aufnahme wird zum Sinnbild im Kampf um das kulturelle Erbe des Blues und gegen die Ausbeutung durch ihre weißen Musik-Produzenten. Ma Rainey’s Black Bottom ist eine emotionale Hommage an die Schwarze Kultur, die im intimen Rahmen eine von Grund auf rassistischen Gesellschaft enthüllt – mit eindrücklichen Performances von Davis und Boseman in seiner allerletzter Rolle. RIP.

The Power of the Dog (2021)

Mit seiner mächtigen Kulisse sprengt The Power of the Dog die Grenzen des Kammerspiels auf spektakuläre Weise. Die wahre Schönheit des Oscar-Überkandidaten aber entspinnt sich im Intimen. Alles dreht sich um Phil (Benedict Cumberbatch), seinen Bruder George (Jesse Plemons), dessen neue Frau Rose (Kirsten Dunst) und ihren Sohn Peter (Kodi Smit-McPhee). Die beiden Brüder bewirtschaften 1925 eine Ranch in Montana. Dabei wirkt Phil wie eine überzeichnete Version eines gestrigen Cowboys, während George der feinfühlige Gentleman ist. Als seine neue Ehefrau Rose und ihr Sohn auf die Ranch ziehen, verschiebt sich die Tektonik der Beziehungen. Besonders Phil entfaltet eine Tiefe und Komplexität, die den Spätwestern wie einen Kommentar auf toxische Männlichkeit und Beziehungsdynamiken wirken lässt. Ein zeitgemäßes Western-Kammerspiel-Crossover!

Netflixwoche Redaktion

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