Sprengstoffkleidung und vergiftete Kuchen: Wie realistisch ist Kleo?

„Dies ist eine wahre Geschichte. Nichts davon ist wirklich passiert.“ Mit diesen zwei Sätzen geht Kleo los. In der neuen deutschen Netflix-Serie spielt Jella Haase eine Stasi-Killerin, die von ihren Auftraggebern unter fadenscheinigen Gründen ins Gefängnis gesteckt wird. Nach dem Mauerfall kommt Kleo als politische Gefangene frei — und hat nur ein Ziel: Sie will Rache nehmen an den Menschen, die sie verraten haben.

Doch wie realistisch ist Kleo? Wie viel Wahrheit steckt in der Serie, in der angeblich nichts so passiert sein soll, wie es dargestellt wird?

Eine einfache Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Und das liegt schon an dem ungewöhnlichen Ansatz, den die Headautoren von Kleo gewählt haben, um ihre DDR-Rachegeschichte zu erzählen. In einem Interview mit Netflix sagt Kleo-Autor Bob Konrad: „Die Serie nimmt uns mit auf einen Rachefeldzug in einem frisch vereinten Deutschland um 1990. In unserem Berlin ist nicht zwangsläufig alles so, wie es in der Realität wirklich war, sondern wie es sich angefühlt hat. Wir haben die psychoaktiven Sonnenbrillen von damals wieder rausgeholt.“

Kleo will also nicht von Fakten erzählen, sondern ein nostalgisches Post-Wende-Gefühl abbilden. Und Nostalgie ist vor allem eines: emotional. Trotzdem ist die Welt von Kleo keine „reine Fantasie-DDR-Welt“, wie Autor Hanno Hackfort  im Netflix-Interview anmerkt: „Leute, die die Zeit miterlebt haben, werden einiges wiedererkennen. Reaktionen wie ‚Boah, geil, die Kaffeemaschine hatten wir auch!‘ sind uns sehr wichtig.“

Kleo macht aus der DDR Pop. Und deshalb ist vieles in der Serie überzeichnet und überspitzt. So hat die Figur Kleo kein historisches Vorbild. Sie basiert nicht auf einer echten Stasi-Killerin. Doch die „Arbeitsgruppe des Ministers für Sonderfragen“ hat es laut den Headautoren von Kleo wirklich gegeben. „Wir haben das Programm gelesen“, sagt Bob Konrad. „Und wissen, was eine Ausbildung zur Geheimagentin beinhaltet hat und wie Feind*innen liquidiert wurden.“

„Ist das nicht eins drüber?“

Gerade dann, wenn die Serie besonders unrealistisch scheint, beruht sie oft auf wahren Begebenheiten. Headautor Hanno Hackfort sagt dazu: „In Folge drei jagt Kleo einen Feind mithilfe einer Sprengkleidung in die Luft. Da könnte man denken: Ist das nicht eins drüber? Aber die Anleitung zum Bau von Sprengstoffkleidung haben wir aus den Originalunterlagen für die Ausbildung der Agent*innen.“

Oft tauchen in Kleo historische Personen auf. Wie Margot Honecker, die Ehefrau von Erich Honecker und ehemalige DDR-Ministerin für Volksbildung, auf die Kleo in Chile trifft. Und tatsächlich ist Margot Honecker mit ihrem Mann nach dem Ende der DDR über Moskau nach Chile geflohen, wo sie bis zu ihrem Tod im Mai 2016 gelebt hat — und vom deutschen Staat sogar noch eine Rente in Höhe von ungefähr 1.500 Euro kassiert hat.

Der lila Drache

Auch das ist wahr: In Kleo hat Margot Honecker lila gefärbte Haare. Diese Frisur trug sie auch im echten Leben. Hinter vorgehaltener Hand hat man Margot Honecker in der DDR deshalb „lila Drache“ genannt. Auf viele DDR-Bürger*innen wirkte Margot Honecker nämlich sogar noch fanatischer als ihr Mann: eiskalt, berechnend, emotionslos. Der SPD-Politiker und ehemalige Präsident des Deutschen Bundestages Wolfgang Thierse hat einmal sehr treffend gesagt: „Stasi-Chef Mielke und Volksbildungsministerin Honecker waren die meist gehassten Figuren des DDR-Regimes.“

Stasi-Chef Erich „Ich liebe euch doch alle“ Mielke kommt auch in Kleo vor. Er wird — Achtung: Spoiler! — von Kleo auf sehr originelle Art umgebracht: Mit einem vergifteten Kuchen, den ihm ein kleines Mädchen ins Gefängnis bringt. In Wahrheit wurde Mielke 1995 aus gesundheitlichen Gründen aus der Haft entlassen und starb ungefähr fünf Jahre später in einem Altenheim in Berlin-Neu-Hohenschönhausen.

Sechs Jahre wegen Mord

Im Gefängnis saß Mielke übrigens nicht wegen Verbrechen, die er in der DDR begangen hat: Alle Verfahren gegen Milke wurden aus gesundheitlichen Gründen eingestellt. Er wurde inhaftiert, weil er 1931 im Auftrag der KPD zwei Polizeioffiziere erschossen und einen lebensgefährlich verletzt hatte. Dafür hat ihn das Landgericht Berlin 1993 zu sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Sechs Jahre Freiheitsstrafe: Das mag zunächst sehr wenig klingen für Mord. Es erklärt sich aber dadurch, dass die Tat zum Zeitpunkt des Urteils über 60 Jahre zurücklag.

Der rote Koffer

Er birgt ein Geheimnis, das die Weltgeschichte für immer verändern könnte: Der mysteriöse rote Koffer, hinter dem Kleo her ist. Einen roten Koffer mit brisantem Inhalt gab es in der Geschichte der DDR tatsächlich: 1989 durchsuchte die Militärstaatsanwaltschaft das Büro von Erich Mielke in der Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg, um Beweismittel für den bevorstehenden Prozess gegen ihn zu sammeln. Dabei stießen sie laut Bundesarchiv vor allem auf eines: „auf allerlei Plunder“. Sie fanden „Armbanduhren, Medaillen, Spirituosen, eine silberne Büste von Mielkes Vorbild Feliks Dzierzynski und eine Totenmaske von Lenin aus Gips“. Doch dazwischen tauchte auch ein roter Koffer auf.

Darin befanden sich vor allem Gerichtsakten aus der Nazi-Zeit. Das Bundesarchiv schreibt auf seiner Website: „Sie stammen aus einem Hochverratsverfahren von 1937 gegen den Deutschen Kommunisten Bruno Baum und den in diesem Prozess mitangeklagten Erich Honecker.“ Das Brisante daran: Die Gerichtsakten zeigen, dass es „Honeckers mangelnde Vorsicht war, die zum Auffliegen einer tschechischen Kundschafterin und schließlich seiner gesamten Widerstandsgruppe geführt hatte. Die Akten belegen auch, dass Honecker wohl umfassend ausgesagt und dadurch seine mitgefangenen Genossen belastet hatte“.

Honecker erscheint in diesen Akten als ein Verräter. Das „stand dem öffentlichen Bild Honeckers als geradezu mustergültigem kommunistischen Widerstandskämpfer entgegen“, so das Bundesarchiv weiter. Aber das waren nicht die einzigen belastenden Dokumente gegen Honecker, die sich im Koffer befanden: Unter anderem entdeckten die Beamt*innen auch noch eine „Nachforschung der Stasi über Umbaukosten für einen privaten Bungalow“, der einer „Liebschaft Honeckers“ gehörte. Die Staatsanwaltschaft schlussfolgerte deshalb, „dass Mielke das Material zusammengestellt hatte, um Honecker unter Druck setzen zu können, sollte dies nötig werden“.

Auf den ersten Blick mag das seltsam klingen: Die Stasi sammelte im Auftrag von Mielke Dokumente, die Honecker stürzen könnten. Doch „das Zusammenstellen von belastendem Material für Erpressungen, so genanntes ‚Kompromat‘, gehörte zum Handwerkszeug der Stasi“, schreibt das Bundesarchiv. Nach 1989 wechselte der Koffer mehrfach die Besitzer*innen und galt zwischenzeitlich als verschollen. Heute kann man ihn sich im Stasi-Museum in Berlin anschauen. Dort steht er in einer Vitrine und leuchtet in einem genauso markanten Rot wie in Kleo.

Stephen King mag Kleo

Kleo hat übrigens einen sehr berühmten Fan: Stephen King, den King of Horror. Auf Twitter hat King geschrieben, Kleo sei „spannend und dabei auch noch sehr witzig“. Nur über eine Sache hat King sich gewundert: Woher hat die Ex-Stasi-Killerin Kleo das Geld, um in der dritten Folge nach Mallorca zu fliegen? Unser Tipp: King sollte sich noch einmal die zweite Folge sehr genau anschauen und nach ungefähr 35 Minuten und 45 Sekunden Laufzeit auf die Pause-Taste drücken.

Lennardt Loss, Netflixwoche

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