Der Skandal um „Lady Chatterleys Liebhaber“

Orgasmen, Lust, Affären, Ehebruch. Das ist der Stoff, aus dem heute nicht nur Liebesdramen sind, sondern der auf irgendeine Art seinen Weg in beinahe jeden Film und jede Serie findet. Doch ob als Nebenhandlung oder Kernkonflikt: Sexualität in Geschichten erzürnt heute niemanden mehr. Weil das Knistern dazugehört – zur Fiktion wie zum echten Leben. Ob ganz explizit wie in Fifty Shades of Grey oder aufklärerisch wie in Sex Education, mit großem Aufsehen sind erotische Szenen heute nicht mehr verbunden.

Anders war es bei Lady Chatterleys Liebhaber, einer Geschichte aus dem Jahr 1928, die nun erneut verfilmt wurde – für die Menschen von damals wahrscheinlich vollkommen unvorstellbar, war doch sogar das Buch verboten. Dass die Zeiten sich geändert haben, dazu hat auch die Erzählung der Lady Chatterley einen Beitrag geleistet.

Eine Frau und ihr sexuelles Erwachen

Die Geschichte spielt auf einem fiktiven herrschaftlichen Landsitz im englischen Nottinghamshire. Constance Chatterley (gespielt von Emma Corrin, auch bekannt aus The Crown als Prinzessin Diana) lebt hier mit ihrem Ehemann, der ihr jedoch wegen seiner schweren Kriegswunden und Impotenz nicht mehr das bieten kann, was sie sich in einer Ehe wünscht. Ebenfalls aus dem Krieg zurückgekehrt ist der Wildhüter ihres Mannes, Oliver Mellors, der in einer Waldhütte lebt und sie durch seine Unnahbarkeit und Genügsamkeit anzieht. Die beiden beginnen ein leidenschaftliches Liebesverhältnis, das vom Autor D. H. Lawrence in der damaligen Zeit erstmals körperlich und detailliert beschrieben wurde, ohne Szenen abzuschwächen oder zu beschönigen.

Das Buch war etwas vollkommen anderes, entgegen aller Moral. Und das lag nicht nur an den beschriebenen sexuellen Handlungen, sondern auch an den anderen Tabus, die es behandelte: Es ging um Ehebruch, um eine emanzipierte Frau, um das Versagen der Oberklasse, um aufgebrochene Konventionen und die weibliche Lust. Und das in einer vulgären Sprache, voller Ärsche und Schwänze und Pisse. Lawrence sprach in seinem Buch erstmals aus, was bisher nie gesagt wurde – oder nur hinter verschlossenen Türen. Im Großbritannien dieser Zeit wurde Sex entweder als etwas ganz und gar Schmutziges betrachtet oder als etwas, das ausschließlich Eheleuten vorbehalten war. Kein Wunder also, dass das Buch von historischer Bedeutung werden würde. Nur: Dafür musste es zunächst auch jemand lesen können.

Zensiert, gekürzt, verboten

Als der Autor 1928 mit der Arbeit an Lady Chatterly begann, war ihm bereits klar, dass es seine Geschichte einmal schwer haben würde. Vor allem in seinem Heimatland England. Und doch schrieb er es für seine Landsleute, weil er wusste, dass sie es am nötigsten hatten, so verklemmt wie sie waren. Lawrence, der auch im Privaten unkonventionell und offen lebte und liebte, war der Mann, der dem Sex seine Poesie zurückgab. Denn einen Porno wollte er nie schreiben. Nur verstanden das leider die wenigsten.

Lawrence lebte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung in Florenz. Als er einige seiner ersten Exemplare nach England schickte, wurden sie sofort von der Polizei beschlagnahmt. Das Buch in seiner unzensierten Fassung wurde vom Markt verbannt, zu obszön, zu pornografisch, keine Literatur. Allerdings war das noch nicht das Ende der Geschichte. Leider jedoch würde Lawrence selbst von all dem nichts mitbekommen. Er starb 1930 an Tuberkulose.

Nachdem ihr Mann Clifford verwundet aus dem Krieg zurückkehrt, entfremdet sich Lady Chatterley (gespielt von Emma Corrin) immer mehr von ihm.

Der Obszönitätsprozess

Die Geschichte von Lady Chatterley ging erst 1960 weiter, als der Taschenbuchverlag Penguin Books einen großen Coup landete: Man sendete elf Exemplare des Buches an eine Bahnhofsbuchhandlung und erstattete gleichzeitig Selbstanzeige. Der Verlag wollte das gerade in Kraft getretene Gesetz gegen „Obszöne Publikationen ohne literarische Qualität“ nutzen und ein Gerichtsverfahren erzwingen, das prüfen würde, wie wenig literarisch Lady Chatterley wirklich sei. Am 20. Oktober 1960 begann der Prozess. Insgesamt waren 35 Zeugen geladen, um Lawrence und sein Buch zu verteidigen. Darunter Gelehrte, Wissenschaftler*innen und sogar ein Bischof. Ihre Argumente: Das Buch sei tugendhaft, empfindsam, es öffne ein neues Bewusstsein für das moderne Leben.

Am sechsten Verhandlungstag sprachen sich die Geschworenen einstimmig für die literarische Wertigkeit des Buches aus, der Prozess war gewonnen. Ganz England stürzte sich auf die erstmalige Veröffentlichung von Lady Chatterleys unzensierter Fassung. Die Folge waren neben hohen Verkaufszahlen vor allem die Aufhebung von Zensurbestimmungen und eine sexuelle Revolution in Großbritannien. Der Prozess hat nicht nur eine juristische, sondern eine kulturelle Bedeutung erlangt. Man wusste danach: Die Gesellschaft ist eine andere.

Und während die meisten Taschenbücher von Lady Chatterleys Liebhaber für einen angemessenen Preis über die Tresen gingen, gab es eine Ausgabe, die für unglaubliche 45.000 Pfund verkauft wurde: 2018 wurde bei Sotheby’s in London das eine Exemplar versteigert, dass der Richter Sir Lawrence Byrne für den Prozess genutzt hatte – und vorher gelesen. Im Buch waren die besonders anstößigen Stellen markiert, die der Richter für den berühmten Prozess als wichtig erachtete. Oder vielleicht auch ein paar von denen, die er einfach besonders gern gelesen hat.

Netflixwoche Redaktion

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