Wie Nigeria zur zweitgrößten Filmnation der Welt wurde

Netflix goes Nollywood: Pro Jahr werden Schätzungen zu Folge bis zu 2.500 Filme im Land gedreht. Mit Serien wie Blood Sisters und King of Boys: The Return of the King sind jetzt auch die ersten Netflix-Originals aus Nigeria erschienen. Doch wie wurde aus Nigeria eigentlich ein Big Player im Filmgeschäft?

Die Geschichte der zweitgrößten Filmnation der Welt beginnt Anfang der 1990er-Jahre in Lagos mit einem Mann, der sich nichts sehnlicher wünscht, als einen Film zu drehen: Okechukwu Oguejiofor. Das Problem ist nur: Oguejiofor hat kein Geld dafür. Deshalb schlägt er sich mit Minijobs durch: Er verkauft Make-Up, Lippenstifte und andere Schönheitsprodukte auf den Straßen von Lagos und legt Geld für seinen Film zurück. Viel braucht Oguejiofor nicht. Wenn er an allem spart, an dem er sparen kann, hat Oguejiofor ausgerechnet, reichen ihm 150.000 Naira für den Dreh, umgerechnet: ungefähr 15.000 Euro.

Oguejiofor ist kein Amateur. Er hat Film studiert. Doch einen Job in der Filmbranche zu kriegen, ist in Nigeria in den 90ern fast unmöglich. Im Land herrscht eine brutale Militärdiktatur, die mit Gewalt und Willkür gegen ihre Gegner*innen vorgeht. Die Inflation ist so hoch wie die Kriminalitätsrate. Und die Wirtschaft liegt am Boden. In der Film- und Fernsehbranche gibt es deshalb einen Einstellungsstopp. Die Menschen gehen sowieso nicht mehr gerne ins Kino. Aus Angst vor dem Regime, vor Entführungen und Raubüberfällen verlässt man das Haus so selten wie möglich. Oguejiofor hat keine Wahl: Wenn er einen Film drehen will, muss er es auf eigene Faust tun und sich das Geld dafür selbst verdienen.

15.000 Euro für einen Film

Einfach ist das nicht. Oguejiofors Einkommen reicht kaum zum Überleben. Doch eines Tages lernt er Kenneth Nnebue kennen. Nnebue ist der Geschäftsführer von NEK Video Links. Ein Unternehmen, das Raubkopien von Jackie Chan-Filmen und US-amerikanischen Blockbustern verkauft, und Video- und Audiokassetten importiert. Nnebue ist bereit, Oguejiofor 150.000 Naira für seinen Film zu leihen. Oguejiofor bekommt aber noch etwas anderes von Nnebue: eine VHS-Kamera und einen nie endenden Vorrat an leeren Kassetten. Damit dreht Oguejiofor einen Thriller, der heute als erster Nollywoodfilm der Geschichte gilt: Living in Bondage.

Schon die Drehbedingungen von Living in Bondage sind typisch für die erste große Welle von Nollywoodfilmen, die bald darauf als VHS-Kassetten auf Märkten und in Kiosken überall in Nigeria zu kaufen sind: Gedreht wird auf günstigen VHS-Kassetten und nicht auf teuren Film. Die Produktionszeit beträgt oft nur wenige Tage. Sets und Bühnenbilder gibt es keine. Die Filmemacher*innen drehen in ihren eigenen Häusern, auf Hinterhöfen, auf Straßen und an öffentlichen Plätzen. Die Schauspieler*innen (oft Lai*innen) bringen ihre Kostüme selbst mit. Oguejiofor hat das frühe Nollywoodkino in einem Interview einmal als „Guerillakino“ bezeichnet: „Leichtes Equipment, keine Pause, Arbeit bei Tag und bei Nacht auf mehreren Posten gleichzeitig in einem kleinen Team.“

In Nigeria werden mehr Filme produziert als in den USA

Living in Bondage wird ein Hit. Schon im ersten Monat setzt der Film über 20 Millionen Naira (ungefähr 140.000 Euro) um. Mit dem Ende der Militärdiktatur 1998 und der Demokratisierung des Landes explodiert die Produktion von Nollywoodfilmen. Schätzungen zu Folge werden in Nigeria pro Jahr zwischen bis zu 2.500 Filme gedreht. Das Land ist damit nach Indien und noch vor den USA die zweitgrößte Filmnation der Welt. Mittlerweile ist die Filmbranche in Nigeria nach der Landwirtschaft sogar der zweitgrößte Arbeitgeber des Landes.

Living in Bondage erzählt die Geschichte von Andy Okeke. Ein junger Mann, der nur ein Ziel hat: Er will reich werden. Egal, wie. Eines Tages hört Okeke von einer Sekte, die ein Opferritual durchführt, das den Teilnehmer*innen ewigen Wohlstand verspricht: Jedes Sektenmitglied opfert bei dem Ritual den einen Menschen, den es am meisten liebt. Okeke denkt nicht lange nach. Er schließt sich der Sekte an und bringt seine eigene Ehefrau um. Seine Gier ist größer als seine Liebe. Für einen kurzen Moment scheint es so, als wirke das Ritual. Okeke wird reich, er heiratet eine neue Frau und genießt das Leben. Doch dann sucht ihn plötzlich der Geist seiner ermordeten Ehefrau heim. An dieser Stelle wird aus dem Melodrama Living in Bondage ein Horrorfilm.

Modernes, afrikanisches Erzählen

Auch die nigerianische Netflix-Serie Blood Sisters, die diesen Mai gestartet ist, mixt wie so viele Nollywoodfilme verschiedene Genreelemente. Die erste Folge ist ein Kammerspiel und spielt fast ausschließlich auf einer Hochzeit. Folge zwei ist wie ein Kriminalfilm aufgebaut. Folge drei und vier wie ein Roadmovie. Nollywood ist vor allem ein Erzählkino. Story is King. Viele nigerianische Filmemacher*innen verstehen sich als moderne afrikanische Geschichtenerzähler*innen. „Ich kann nicht die Geschichten der Weißen erzählen“, hat der Regisseur Bon Emeruwa einmal gesagt. „Sie sprechen von ihren eigenen Geschichten in ihren Filmen. Das sind immer dieselben Themen: Liebe, Action... Wir erzählen das auf unsere Weise, auf unsere nigerianische Art, auf unsere afrikanische Art.“

Lennardt Loss, Netflixwoche

Drücke ESC, um die Suche zu schließen.