Macht Liebe wirklich blind? Ein Paartherapeut über die Reality-Show

Die amerikanische Dating-Show Liebe macht blind geht in die dritte Runde. In den vergangenen zwei Staffeln hatten sich 16 Paare verlobt, ohne sich vorher gesehen zu haben. Bis heute verheiratet sind noch wenige. Wir wollten vom Paartherapeuten Dr. Clemens von Saldern wissen: Welche Rolle spielt das Aussehen bei der Partnerwahl wirklich?

Bei Liebe macht blind verlieben sich immer wieder die Kandidat*innen ineinander, ohne sich je gesehen zu haben. Spielt das Aussehen also vielleicht gar keine so große Rolle bei der Partnerwahl? 

Das Aussehen spielt nur eine Rolle von vielen. Wir haben ja fünf Hauptsinne: Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Tasten. Und all diese Sinne haben wir nicht zufällig. Das Riechen ist zum Beispiel nicht bloß wichtig, um verdorbene Nahrungsmittel zu erkennen, sondern auch für das Einschätzen eines Menschen. Nicht umsonst sagt der Volksmund „Ich kann den nicht riechen“. Jeder dieser fünf Sinne spielt eine große Rolle bei der Prüfung, ob ein Mensch zu einem passt oder nicht. Es kann aber auch sein, dass ich jemanden bloß optisch total attraktiv finde und sich dadurch Verliebtheitsgefühle einstellen. Das passiert zum Beispiel bei Schauspielern, die wir nur in Filmen sehen.

Das wäre quasi das Gegenteil von Liebe macht blind.

Genau. Jeder Sinn als einzelner ist dazu geeignet, ein Verliebtheitsgefühl auszulösen. Es gab auch mal eine Geruchs-Reality-Show, bei der Frauen T-Shirts mit den Gerüchen verschiedener Männern bekamen. Einer davon war der Vater, der wurde als Erster aussortiert. Aber auch unser Geruchssinn  ist nur ein Fünftel unserer Sinneswahrnehmung. Je mehr Sinne dazukommen, desto geringer wird die Fehlerquote, eine stimmige, passende Entscheidung zu treffen. Und dann gibt es aber auch noch einen sechsten Sinn. Und der ist ein Gefühl. Und das ist vielleicht der Hauptsinn bei der Partnerwahl. Eigentlich bei allen Lebensentscheidungen.

Was sagt uns dieser Sinn, was die anderen nicht können?

Er gibt uns ein Gefühl für einen anderen Menschen. Wie fühle ich mich, wenn ich mit dem Menschen zusammen bin? Wenn ich ihn betrachte? Ihm zuhöre? Welche Schwingungen sind da?

Aber kann es für eine gelungene Partnerwahl denn nicht auch von Vorteil sein, sich nur über das Hören kennenzulernen – und sich so auf die inneren Werte zu fokussieren?

Es hat Vor- und Nachteile. Der Vorteil ist, dass bestimmte Verführungstechniken von uns Menschen dann nicht mehr greifen. Zum Beispiel, die des „sich schön machens“. Es gibt keine Ablenkung der anderen Sinne. Ich konzentriere mich nur auf den einen Sinn, der geschärft wird. Wenn es nur die Stimme gibt, hört man viel genauer hin. Was ja grundsätzlich hilfreich ist. Der Nachteil wäre: Weitere Informationsebenen fallen weg.

Das heißt, mit dem Aussehen könnte man mehr tricksen?

Es gibt das Balzen in der Tierwelt wie in der Menschenwelt auch. Da machen Menschen für sich Reklame, um zu sagen: Ich bin ein guter Partner, du solltest mich wählen. Auf allen Ebenen, visuell, stimmlich, geruchlich kann man beschönigen. Wir denken, dass Aussehen die Hauptrolle spielt. Weil es so oft betont wird, zum Beispiel in der Werbung. Dabei tut es das gar nicht. Wir glauben, wenn der Partner schön ist, dann ist er auch ein guter Partner. Aber da kann man sich sehr vertun.

Angenommen, ein Paar hat sich verliebt und sieht sich dann zum ersten Mal. Wäre es bei der ersten Begegnung, wenn die Bäuche voller Schmetterlinge sind, überhaupt möglich, den anderen unattraktiv zu finden?

Die Möglichkeit besteht auf jeden Fall. Aber manchmal ist ja auch der Wunsch der Vater des Gedankens. Und dann wird passend gemacht, was möglicherweise nicht passt. Weil unser Bedürfnis nach dem Gefühl der Verliebtheit sehr stark ist. Wir sind verliebt ins Verliebtsein. Das ist ja ähnlich wie ein Orgasmus. Verliebtheit ist ein Rauschzustand. Und deswegen sind auch alle scharf darauf. Das erleben wir auch in der Paartherapie sehr oft: Menschen blenden viel aus, weil sie sich etwas nicht kaputtmachen wollen. Obwohl der sechste Sinn schon etwas ahnt.

Im Grunde weiß man also, dass man sich nur etwas vormacht? 

Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Man ahnt es. Es ist schwer greifbar. Sich selbst etwas vorzumachen ist eine Mischung aus bewusst und unbewusst. Aber manchmal treffen wir mindestens die bewusste Entscheidung, nicht weiter nachzufühlen.

Glauben Sie, dass eine Beziehung von Liebe macht blind Zukunft haben kann?

Im Prinzip, ja. Aber die Beziehungen sind vermutlich instabiler. Weil die Wahrscheinlichkeit geringer ist, dass man mit nur einer Prüfebene – dem Hören – den oder die Richtige findet.

Netflixwoche Redaktion

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