„Nichts ist so wie es scheint“ – Krimi-Bestsellerautorin Leonie Swann über Glass Onion

Achtung, Spoiler! In diesem Interview verraten wir den Plot von Glass Onion.

Eine Privatinsel in Griechenland. Ein exzentrischer Tech-Milliardär, den niemand mag. Und eine Leiche, die plötzlich im Foyer liegt. In Glass Onion: A Knives Out Mystery ermittelt Daniel Craig als Detektiv Benoit Blanc im Superreichen-Milieu. Wir haben uns den Whodunit-Film zusammen mit einer der erfolgreichsten Murder-Mystery-Autorinnen Deutschlands angeschaut: Leonie Swann, die mit dem Schafskrimi Glennkill berühmt wurde und Thriller über neurotische Wissenschaftler und Senioren-WGs schreibt. Ein Gespräch über Agatha Christie, Achterbahnfahrten und unterdrückte Gefühle.

Netflixwoche: Wussten Sie vor Benoit Blanc, wer der Mörder ist?

Leonie Swann: Ich hatte einige Theorien. Miles war einer meiner Kandidaten, aber nicht der einzige. Das ist eine Berufskrankheit: Man überlegt sich, was man selbst mit so einer Geschichte machen würde und was die unwahrscheinlichste Story-Variante sein könnte. Dass Miles der Mörder ist, war für mich deswegen eine Option.

Das müssen Sie bitte genauer erklären.

Leonie Swann: Wir haben bei Glass Onion ein klassisches Agatha-Christie-Setting: Eine isolierte Insel. Eine Gruppe von Personen, die sich kennen. Und ein Milliardär, den keiner so richtig mag. Zuerst denkt man: Miles ist das klassische Opfer. Er wird sterben. Doch am Ende dreht Glass Onion den Spieß um und Miles ist der Mörder.

Ermitteln Sie immer mit, wenn Sie einen Krimi lesen oder schauen?

Leonie Swann: Das ist doch auch der Reiz an der Geschichte. Wenn man einen vollkommen hermetischen Krimi hätte, wo am Ende jemand sagt „Das ist der Mörder“ und lauter Information liefert, die man selbst nicht hatte, würde man sich doch denken: Naja, irgendwie habe ich mir das anders vorgestellt. Umgekehrt wäre es auch unbefriedigend, wenn man nach der dritten Zeile schon weiß, wer der Mörder ist. Man muss die Goldene Mitte finden.

Das klingt anstrengend.

Leonie Swann: Das ist in der Tat schwierig. Man muss eine Geschichte finden, die komplex genug für die erfahrenen Leser ist. Aber gleichzeitig einfach genug für die Leser, die sich Abends vor dem Einschlafen nur ein wenig unterhalten lassen wollen. Ich arbeite deswegen oft mit Testlesern. Das holt einen manchmal auf den Boden der Tatsachen zurück, wenn man relativ ambitionierte Ideen hat und die Testleser dann plötzlich sagen: Du setzt zu viel voraus.

Der komplexeste Mörder-Plot ist also nicht automatisch der beste?

Leonie Swann: Es geht nicht darum, die schlauste Lösungsvariante für den Mord zu finden. Sondern die, die am besten zur Geschichte passt. Außerdem merkt man bei den schlausten Ideen auf den zweiten Blick oft, dass sie so schlau nun doch nicht sind. Wo wir bei Miles und seinen Puzzlespielen wären.

Miles, das angebliche Genie, ist in Wahrheit ein Vollidiot.

Leonie Swann: Das ist ein schöner Dreh. Wobei mich der Film am Anfang fast verloren hätte.

Echt?

Leonie Swann: Bei den Puzzleboxen ging es mir so wie Benoit Blanc. Ich finde solche Spiele langweilig. Aber am Schluss von Glass Onion hat die Szene schön illustriert, was für ein Dösel Miles ist: Bei Miles und den Boxen steckt nicht viel dahinter.

Können Sie sich noch an die erste Whodunit-Geschichte ihres Lebens erinnern?

Leonie Swann: Das könnte Die Mausefall von Agatha Christie gewesen sein. Aber sicher weiß ich das nicht mehr.

Warum kommen so viele Whodunits aus Großbritannien? Lässt es sich da besonders gut morden?

Leonie Swann: Vielleicht hat das etwas mit der britischen Art zu tun, besonders höflich und kontrolliert zu sein und seine Gefühle nicht offen zu zeigen, sondern zu unterdrücken und zu vertuschen.

Eine Figur, die immer sagt, was sie denkt, eignet sich nicht als Whodunit-Mörder?

Genau, da wären die Enthüllungen nicht überraschend genug. Aber je stärker man die eigenen Gefühle unterdrückt, desto höher ist vielleicht das Potenzial, dass es schreckliche Geheimnisse gibt, die man aufdecken kann.

Genie oder Vollidiot? Edward Norton als Miles Bron in Glass Onion: A Knives Out Mystery.

Wenn Sie ein neues Buch schreiben: Wissen Sie da schon von Anfang an, wer der Mörder ist?

Leonie Swann: Nein, ich habe selten einen Masterplan, wo alles schon bis ins kleinste Detail ausgefädelt ist. Meistens muss ich den Mörder erst finden. Genau wie meine Figuren. Oft habe ich beim Schreiben zwei, drei Varianten mit Kandidaten, die als Mörder in Frage kommen. Das hat den Vorteil, dass man gut falsche Fährten legen kann.

Weil Sie in dem Moment noch gar nicht wissen, dass es eine falsche Fährte ist?

Leonie Swann: Genau. Das kann ein richtiges Aha-Erlebnis sein, wenn ich herausfinde, wer der Mörder ist. Weil sich dann alles auf eine Art zusammenfügt, die mich selbst überrascht und ich denke: Das passt besser als erwartet. Im zweiten Durchgang streiche ich dann alles, was nicht zu der Variante passt, für die ich mich entschieden habe. Das ist ja das Schöne an Text: Man schreibt ihn einmal und kann ihn dann so oft überarbeiten, bis man damit zufrieden ist.

Ihre Figuren haben oft ein Handicap. Da sind die ängstlichen und naiven Schafe aus „Glennkill“. Der Wissenschaftler mit Zwangsstörungen aus „Gray“. Und die Senioren-WG aus „Mord in Sunset Hall“. Kann ein Handicap ein Vorteil sein, wenn man einen Mord aufklären muss?

Leonie Swann: In meinen Büchern geht es auch darum, dass die Welt nicht vordefiniert vor uns liegt, sondern dass wir sie auf verschiedene Arten sehen können. Eine Schafherde, ein Wissenschaftler mit Zwangsstörungen oder die Mitglieder einer Senioren-WG nehmen die Welt anders wahr als der Durchschnittsmensch. Beim Schreiben ist das manchmal ein Katharsis-Erlebnis: Man sieht die Welt durch andere Augen und macht sich klar, dass nichts so selbstverständlich ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Und genau darum geht es bei Licht betrachtet ja auch bei der Aufklärung von Verbrechen.

Rian Johnson, der „Glass Onion“-Regisseur, hat einmal gesagt: Seine Whodunits sollen sich anfühlen wie eine Achterbahnfahrt und nicht wie ein Kreuzworträtsel.

Leonie Swann: Es geht um viel mehr, als nur die logische Lösung für ein Rätsel zu finden. Für mich leben Whodunits von den Figuren. Der eigentliche Reiz des Krimi-Genres liegt darin, dass man sich Menschen genau anschauen kann. Dass man einen genauen Blick auf ihre Beziehungen und Dynamiken wirft.

Netflixwoche Redaktion

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