Drei Leben: Beruht die Serie auf wahren Begebenheiten?

Aleida Trujano rastet aus. Die junge Frau lädt ihre Pistole durch und betritt ein Bürogebäude in Mexiko-Stadt, das mit seinen Marmorböden, den langen Fluren und den abstrakten Gemälden an den Wänden wie eine Mischung aus Privatklinik und Kunstmuseum aussieht. Der Wachmann schaut Trujano an, sagt noch: „Sie können hier nicht rein.“ Da trifft ihn die erste Kugel. Blut spritzt auf den Marmor.

Mit dem Fahrstuhl fährt Trujano nach oben. Sie läuft geradewegs auf das Büro von Dr. Julia Bátiz zu, drückt die Tür auf und hält der Psychologin die Pistole an den Kopf. „Du kommst jetzt mit“, sagt Trujano.

Kurz danach stehen Trujano und die Psychologin auf dem Dach des Gebäudes. Über ihnen kreist ein Polizeihubschrauber. Unten auf der Straße parken Streifenwagen. Trujano telefoniert mit dem Einsatzleiter, stellt Forderungen: „Ich will ein Fernsehteam, ich will Reporter, ich will Kameras und die Presse!“ Sie schaut Bátiz an, sagt: „Du wirst ihnen die ganze Wahrheit erzählen!“

Doch dazu wird es nicht kommen. Ein Polizist schießt Trujano nieder. So beginnt Drei Leben, eine mexikanische Thriller-Serie auf Netflix. Der Vorspann kündigt an: Die Serie ist von wahren Begebenheiten inspiriert. Doch wie viel Wahrheit steckt wirklich in der Serie? Die kurze Antwort: Mehr als man denkt bei einer Geschichte, in der Doppelgängerinnen und krude Experimente eine entscheidende Rolle spielen.

Darum geht es in Drei Leben

Die Hauptfigur von Drei Leben ist Rebecca Fuentes. Eine Forensikerin, die nach dem Amoklauf den Tatort untersucht. Als sich Fuentes im weißen Overall über die niedergeschossene Trujano beugt, kriegt sie gleich zweimal einen Schock. Zuerst fällt ihr auf, dass Trujano noch atmet. Dann realisiert sie: Trujano sieht genauso aus wie sie. Es ist, als würde Fuentes in ihr eigenes Spiegelbild schauen.

Drei Leben: Rebecca Fuentes beugt sich über ihre angeschossene Schwester.

Im Laufe der Serie – Achtung, Spoiler! – findet Fuentes heraus, dass sie zwei Schwestern hat. Im Rahmen eines perfiden Experiments hat ein Arzt die eineiigen Drillinge nach der Geburt getrennt und in drei unterschiedliche Pflegefamilien vermittelt: in eine Unter-, Mittel- und Oberschichtfamilie. So wollte der Arzt herausfinden, was wichtiger für die Entwicklung eines Kindes ist: die Erziehung oder die Gene.

Auf Druck der Presse wurde das Experiment jedoch eingestellt. Jedenfalls offiziell. Inoffiziell führte die Assistentin des Arztes das Experiment weiter. Ihr Name: Dr. Julia Bátiz. Die Frau, der Trujano in der ersten Szene von Drei Leben eine Pistole an den Kopf drückt.

So viel Wahrheit steckt in der Serie

Ein ähnlicher Fall hat sich in den USA ereignet. Die Geschichte beginnt 1980 mit einem jungen Mann namens Robert Shafran. Shafran ist 19 und fährt mit seinem klapprigen Volvo (Spitzname: „Old Bitch“) nach New York. Dort will er an einem College studieren.

Als er an seinem ersten Tag über die Flure des College läuft, grüßen ihn plötzlich fremde Menschen. Sie nennen ihn Eddy und tun so, als würden sie ihn schon lange kennen. Zuerst ist Shafran verwirrt. Bis er herausfindet: Er hat einen Doppelgänger, der Eddy Galland heißt und die gleiche Frisur, das gleiche Gesicht und den gleichen Körperbau wie er selbst hat.

Shafran und Galland treffen sich. Sie stellen fest, dass sie beide am gleichen Tag geboren und in Adoptivfamilien aufgewachsen sind. Schnell wird klar: Sie sind eineiige Zwillinge.

Zahlreiche Zeitungen greifen die Story auf. Es erscheinen Artikel mit Fotos von den Zwillingen. Eines dieser Fotos sieht auch David Kellman und denkt: Die beiden sehen genauso aus wie ich. Er greift zum Telefon. Und aus den eineiigen Zwillingen werden eineiige Drillinge.

Zwei der drei Drillinge in Drei Leben.

Shafran, Galland und Kellman werden Medienstars. Sie sitzen in Talkshows und erzählen ihre Geschichte: Obwohl sie in unterschiedlichen Familien aufgewachsen sind, haben sie die gleichen Interessen und Vorlieben. Alle drei waren in der High School in einem Wrestling-Team. Alle drei rauchen am liebsten Marlboro-Zigaretten. Und alle drei stehen auf ältere Frauen.

Bald mieten die Drillinge ein Apartment in New York City und feiern zusammen in Clubs wie dem Studio 54. Irgendwann eröffnen sie ein eigenes Restaurant. Es heißt: „Triplets“, Drillinge.

Hier könnte die Geschichte enden. Mit einem Happy-End. Aber das tut sie nicht. Bald kommt heraus: Die Drillinge wurden nicht aus Versehen nach der Geburt getrennt und in unterschiedliche Pflegefamilien vermittelt, sondern absichtlich. Sie waren die Probanden einer geheimen Studie unter der Leitung des Psychiaters Peter B. Neubauer.

„Diese Leute trennten uns und studierten uns wie Laborratten.“

Neubauer und sein Team wollten herausfinden, was wichtiger für die Entwicklung eines Kindes ist: die genetischen Anlagen oder die Erziehung. Deswegen haben sie eineiige Zwillinge und Drillinge in Pflegefamilien mit unterschiedlichem sozioökonomischen Hintergrund vermittelt. So wuchs Kellman in einer Working Class-Familie auf. Galland in einem Mittelstandshaushalt. Und Shafran bei Eltern aus der Oberschicht.

Wie viele Zwillinge und Drillinge vor der Adoption getrennt wurden, ist bis heute unbekannt. Neben dem Fall um Shafran, Galland und Kellman ist noch ein weiterer Fall um zwei Zwillingsschwestern publik geworden. Doch vermutlich gibt es in den USA bis heute Menschen, die nicht wissen, dass sie eine Zwillingsschwester oder einen Zwillingsbruder haben.

In dem Dokumentarfilm Drei gleiche Fremde (Originaltitel: Three Identical Strangers) von 2018 erzählen Shafran und Kellman, dass sie als Kinder oft von Wissenschaftler*innen besucht wurden. Dass sie Intelligenz- und Rorschachtests absolvieren mussten. Und dass man sie dabei gefilmt hat.

Über die wahren Hintergründe der Tests täuschte man die Adoptiveltern. Und sagte ihnen: Ihre Kinder seien Probanden in einer Studie über die Entwicklung von Adoptivkindern. Heute sagt Shafran: „Diese Leute trennten uns und studierten uns wie Laborratten.“

In der Doku tritt auch ein ehemaliger Forschungsassistent von Neubauer auf. Über die Hausbesuche bei den Adoptivkindern sagt er: „Man musste aufpassen, dass einem nicht etwa rausrutschte: Du siehst genau aus wie dein Zwillingsbruder. Da wäre ich auf der Stelle gefeuert worden.“ Dann lacht er.

Dr. Julia Bátiz in Drei Leben.

In der Netflix-Serie Drei Leben wird die Studie von Neubauer zwar nie explizit erwähnt. Aber in der sechsten Folge gibt es einen versteckten Hinweis darauf.

Die Mutter von Rebecca Fuentes zeigt ihrer Tochter einen alten Zeitschriftenartikel, den sie gefunden hat. „Sieh dir das mal an“, sagt sie. „Da geht es um Drillinge, die voneinander getrennt wurden und in den 1980er Jahren wieder zusammengefunden haben.“ Für einen kurzen Moment filmt die Kamera die Zeitschrift und man sieht ein Foto von Shafran, Galland und Kellman. Sie halten sich im Arm und lächeln.

Das Foto von Foto von Shafran, Galland und Kellman in Drei Leben.

Am Ende von Drei Leben erfährt Rebecca Fuentes, dass Dr. Julia Bátiz für ihr Experiment sogar gemordet hat. Bátiz hat die Adoptivväter von Fuentes und Aleida Trujano umgebracht. Sowie die Adoptivmutter der dritten Schwester. Der Grund: Sie wollte herausfinden, wie die Drillingsschwestern das Trauma verarbeiten.

Auch diese Plotline hat wohl einen wahren Kern. In Drei gleiche Fremde erzählt ein Journalist, dass auffällig viele der Zwillinge und Drillinge aus der Studie von Neubauer an psychischen Krankheiten leiden, an Depression und Schizophrenie. Einige haben sich sogar das Leben genommen. Auch Edward Galland, einer der Drillinge. Der Journalist spekuliert deswegen: Es könnte sein, dass Neubauer und sein Team bewusst Adoptivkinder von psychisch kranken Eltern ausgewählt haben, um mit ihrer Studie auch zu überprüfen, ob psychische Krankheiten vererbbar sind.

Beweisen lässt sich das allerdings bisher nicht. Peter B. Neubauer ist 2008 verstorben. Vor seinem Tod hat Neubauer das gesamte Material der Studie der Yale Universität in Connecticut übergeben und es bis 2065 versiegeln lassen. Erst dann darf die Studie der Öffentlichkeit freigegeben werden.

Netflixwoche Redaktion

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