Die Scham nach dem Orgasmus: Ein Sexualtherapeut über Too Hot to Handle: Germany

Kein Küssen, kein Petting, kein Sex und keine Selbstbefriedigung: Wenn die Kandidat*innen von Too Hot to Handle: Germany diese vier Regeln befolgen, dann können sie ein Preisgeld von 200.000 Euro gewinnen. Doch schon nach 32 Minuten knutschen Stella und Anna herum. Insgesamt verlieren die Kandidat*innen von Too Hot to Handle: Germany 174.000 Euro.

Aber warum fällt es ihnen so schwer, auf Sex und Zärtlichkeiten zu verzichten? Darüber haben wir uns mit dem Paar- und Sexualtherapeuten Umut C. Özdemir unterhalten. Ein Gespräch über Orgasmen, Klopapier und Kim Kardashian.

Netflixwoche: Fällt es uns schwerer, logisch zu denken, wenn wir sexuell erregt sind?

Umut C. Özdemir: Ja. Wir denken weniger über die Konsequenzen unseres Handelns nach. Bestimmte kritisch denkende Gehirnareale werden heruntergefahren und nach dem Orgasmus wieder eingeschaltet. Deswegen schämen sich auch viele Menschen nach dem Orgasmus für das, was sie während des Sexes gemacht haben oder machen wollten. Sie fangen an, sich zu verurteilen. Weil sie vielleicht gesagt haben: „Schlag mich! Spuck mich an!“ Oder weil sie die Füße oder den Hintern von jemand anderem geleckt haben. Bei Too Hot to Handle: Germany kann man sich aber noch eine andere Frage stellen: Warum klappt der Belohnungsaufschub nicht?

„Die Summe unseres Lebens sind die Stunden, in denen wir liebten.“ – Wilhelm Busch

Was ist denn ein Belohnungsaufschub?

Im schulisch-akademischen Kontext würde man „Sitzfleisch“ sagen. Ich muss mich hinsetzen, ich muss lernen und ich muss Frustration aushalten, damit ich am Ende eine gute Note bekomme.

Oder ein Preisgeld in Höhe von 200.000 Euro.

Für Too Hot to Handle: Germany könnte man eine Vierfeldertafel aufmachen. Im besten Fall habe ich als Kandidat zwei Wochen keinen Sex, aber gewinne dafür ein Preisgeld. Und im schlechtesten Fall habe ich weder Geld noch Sex. Die meisten Kandidat*innen wählen einen Mittelweg. Sie versuchen, ein bisschen Geld zu bekommen. Aber auch Nähe und Zärtlichkeit.

Kevin und Emely haben insgesamt 54.000 Euro verloren. Stella und Tobias 32.000 Euro. Und Anna 28.000 Euro. Hat sich da eine Gruppendynamik entwickelt? Nach dem Motto: Wenn die Person so viel Geld verloren hat, kann ich auch etwas verlieren.

Wenn wir in neuartigen Situationen sind, dann schauen wir nach links und rechts. Wie verhalten sich die anderen? Wir kennen das von der Corona-Pandemie: Irgendjemand hat angefangen, Klopapier zu horten.

Und dann haben plötzlich alle Klopapier gekauft.

Vielleicht hatten die Kandidat*innen bei Too Hot to Handle: Germany aber auch so eine Art magische Grenze im Kopf: Bis dahin kann das Preisgeld fallen und ich kann immer noch gut damit leben. Oder es war genau umgekehrt: Wenn das Preisgeld so weit gesunken ist, dann interessiert es mich nicht mehr. Dann kann ich alles machen. Aber es war auch ein Bitchmove von der Produktion, dass man den Kandidat*innen am Anfang nicht gesagt hat, wie hoch die Strafen sind.

„Wo man Liebe aussät, da wächst Freude empor.“ – William Shakespeare

Ein Kuss kostet 6.000 Euro.

Wenn man das nicht weiß und ein bisschen gutgläubiger an die Sache herangeht, dann denkt man vielleicht: Naja, was soll ein Kuss schon kosten? 100 Euro?

„Die Art, wie sie mit ihren Augen spielt.“ „Ich mag Ärsche.“ „Wir sind total auf einer Wellenlänge — und das ist mega attraktiv.“ Wenn die Kandidat*innen gefragt werden, was ihnen aneinander gefällt, geben sie sehr unterschiedliche Antworten. Warum stehen wir eigentlich alle auf unterschiedliche Dinge?

Mein früherer Vorgesetzter hat immer gesagt: „Herr Özdemir, wenn Sie herausfinden, warum jemand auf etwas steht, zahle ich Ihnen Ihr Flugticket nach Schweden und Sie holen sich den Nobelpreis ab.“ Wir wissen super wenig über die menschliche Sexualität. Das ist immer noch ein Tabuthema. Auch in der Forschung. In der Psychologie gehen wir aber von einem biopsychosozialen Paradigma aus.

Das klingt kompliziert.

Es gibt viele verschiedene Faktoren, warum wir etwas attraktiv finden. Biologisch gesehen stehen wir eher auf Menschen, mit denen wir Kinder zeugen können. Dazu gab es mal ein spannendes Experiment von Claus Wedekind. Er hat einer Frauen- und einer Männergruppe Blut abgenommen und die Gene ihrer Immunsysteme analysiert. Dann hat er die Männer weiße T-Shirts tragen lassen. Die Frauen sollten am Ende nur anhand des Geruchs der T-Shirts sagen, ob sie sich eine Beziehung mit dem jeweiligen Mann vorstellen könnten. Dabei kam heraus: Die Frauen haben vor allem Männer ausgewählt, die ein komplementäres Immunsystem zu ihnen hatten.

„Ich kann dich gut riechen.“ An dem Sprichwort ist also etwas dran.

Genau. Der Nachwuchs soll ein möglichst breit aufgestelltes Immunsystem haben und resistent gegen Krankheiten sein, damit er überleben kann. Evolutionär ist das sinnvoll.

„Das schönste Denkmal, das ein Mensch bekommen kann, steht in den Herzen der Mitmenschen.“ – Albert Schweitzer

Und der psychologische und soziale Aspekt vom biopsychosozialen Paradigma?

Aus der Sozialpsychologie kennen wir den Mere-Exposure-Effekt: Je öfter wir einem Reiz ausgesetzt sind, desto besser finden wir ihn. Wenn ich in bestimmten Kreisen aufgewachsen bin — die Soziologie spricht von Milieus —, dann finde ich vielleicht Frauen mit Extensions und Acrylnägeln attraktiv. In anderen Kreisen ist das ein No-Go.

Was ich attraktiv finde, hängt also davon ab, in welcher Kultur ich aufgewachsen bin?

Ja. Kim Kardashian hat es uns am besten vorgelebt. In den Nullerjahren galten die sogenannten Lollipop-Frauen als attraktiv. Sie waren körperlich super abgemagert und im Verhältnis dazu sah ihr Kopf viel zu groß aus. Kim Kardashian hingegen galt als hässliches Entlein. Doch sie hat es geschafft, das komplett umzudrehen und ihren Körper mit Rundungen als Schönheitsideal zu vermarkten. Und jetzt sehen wir auf Social Media operierte Brüste, Brazilian Butt Lifts und aufgespritzte Lippen.

Können zwischen Verliebten wirklich tiefgründigere Beziehungen entstehen, wenn sie keinen Sex haben, wie es die Show suggeriert?

Man kann das ja mal auf die Spitze treiben: Was ist, wenn man sich liebt und nach einem Jahr ohne Sex plötzlich feststellt, dass man sexuell überhaupt nicht zusammenpasst? Wenn ich mich jetzt hinstelle und sage: „Ich will dir ins Maul pissen“. Dann weiß ich nicht, ob du sagen würdest: „Ja, cool, können wir ausprobieren.“ Oder: „Ey, ganz ehrlich, funktioniert für mich nicht.“ Ich glaube, dass die Show da eine Trennung macht, wo keine ist. Denn Sex erfüllt für die meisten von uns auch psychosoziale Grundbedürfnisse nach Nähe, Wärme, Akzeptanz und Selbstwert. Gleichzeitig bietet das Sex-Verbot aber ein Potenzial, nämlich dass die Teilnehmenden sich unterhalten und besser kennenlernen können – statt die gemeinsame Zeit nur mit Sex zu verbringen.

Zur Person

Umut C. Özdemir (Foto © Mehran Djojan)

Umut C. Özdemir (Jahrgang 1986) ist Diplom-Psychologe, Psychotherapeut, Gruppenpsychotherapeut, Paar- und Sexualtherapeut. Auch auf Instagram und TikTok leistet Özdemir Aufklärungsarbeit. Sein Buch Leichter lieben: Weil Beziehung auch einfach geht erscheint im Juni 2023 bei dtv.

Lennardt Loss, Netflixwoche

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