Das Wunder: Die wahre Geschichte der Mädchen, die aufhörten zu essen

Irland, 1862, wenige Jahre nach der großen Hungersnot. Anna O’Donnell (Kila Lord Cassidy) ist gerade mal elf Jahre alt. Doch sie verhält sich anders als andere Elfjährige. Sie spielt nicht, geht nicht auf den Markt und hilft ihrer Mutter nicht im Haushalt. Sie sitzt einfach nur da. Und isst nichts. Seit vier Monaten.

Die englische Krankenschwester Lib Wright (Florence Pugh) soll das Kind beobachten. Als es Anna immer schlechter geht, versucht Lib alles, um die Wahrheit ans Licht zu bringen und den Glauben einer Gemeinschaft herauszufordern, die lieber an Wundern festhalten möchte.

Der neue Film Das Wunder (ab 16. November auf Netflix) basiert auf dem gleichnamigen Roman von Emma Donoghue. Und dieser wiederum basiert auf einer wahren Geschichte, oder: auf mehreren. Das ist die Geschichte der Mädchen, die über Monate hinweg nichts aßen – oder das zumindest behaupteten.

Die echten „Fasting Girls“ des 19. Jahrhunderts

Das Fasten ist für viele Religionen eine besonders wichtige Tradition: Das Ramadan-Fasten gehört zu den fünf Grundsäulen des Islam, im Christentum sind die 40 Fastentage vor Ostern ein bis heute gelebter Brauch. Für eine Weile auf Essen und Trinken zu verzichten, soll Demut und Dankbarkeit ausdrücken und den Fokus von der irdischen Welt auf die göttliche richten.

Bereits im Mittelalter wurde vor allem von katholischen Heiligen wie Katharina von Siena und Lidwina von Schiedam erzählt, sie würden leben, ohne zu essen. Wer fastete, galt als rein, wer über eine wundersame Dauer fastete, als heilig.

Im Viktorianischen Zeitalter (Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts) machten dann erneut Geschichten von fastenden Menschen die Runde, diesmal in ganz Europa: Erzählungen zufolge gab es immer mehr junge Mädchen, die über Monate gar nichts aßen – und dennoch überlebten. Man nannte sie die „Fasting Girls“. Es dauerte nicht lange, bis auch ihnen besondere Kräfte zugeschrieben wurden, sie galten als von Gott auserwählt.

113 Wochen ohne zu Essen

Sarah Jacob, geboren 1857, war eine der berühmtesten nicht essenden Mädchen, bekannt als „walisisches Fastenmädchen“. Das Haus der Familie war stets gefüllt mit Pilger*innen, die Geschenke, Spenden und Blumen brachten. Sarah und ihre Eltern behaupteten, das Mädchen würde seit ihrem zehnten Lebensjahr nicht mehr essen. Als sie 1869 starb, hatte sie der Familie zufolge 113 Wochen keine Nahrung zu sich genommen.

Acht Tage vor ihrem Tod kam Sarah unter die Beobachtung eines Teams von Krankenschwestern. Nun, unter den Augen von Zeuginnen, wurde Sarah immer schwächer und starb. Die Eltern wurden deshalb beschuldigt, gelogen zu haben: Scheinbar hatten sie ihrem Kind in den Jahren zuvor heimlich doch kleine Happen Nahrung zugeführt. Vor allem aber wurde ihnen vorgeworfen, sie hätten ihr Kind verhungern lassen.

„Ich muss nicht essen“, sagt Anna (Kíla Lord Cassidy) in Das Wunder. „Ich lebe von Manna.“ Also der göttlichen Speise, die laut Tora und Bibel vom Himmel fiel und die Israeliten auf ihrer Wanderung durch die Wüste ernährte.

Beide Eltern wurden wegen Totschlags verurteilt. Wie der Gerichtsmediziner kommentierte: „Was ist leichter zu glauben: Dass die Gesetze der Natur für dieses Mädchen nicht galten? Oder dass der Vater gelogen hat?“

Neben Sarah gab es auch Lenora Eaton, die ebenfalls einige Wochen nach Beginn der ärztlichen Beobachtung verstarb. Mollie Fancher, die behauptete, 14 Jahre lang nicht gegessen zu haben. Oder Josephine Marie Bedard, die eigenen Angaben zufolge sieben Jahre fastete. Alle bekannten Geschichten der Fasting Girls enden tragisch – die Mädchen werden als Betrügerinnen entlarvt oder verhungern.

Die ersten Fälle von Magersucht?

Wer schon damals nicht an den Einfluss höherer Mächte glaubte, waren Krankenschwestern und Ärzte. Sie nannten das Phänomen Anorexia mirabilis, zu deutsch: wundersame Appetitlosigkeit. Doch an ein Wunder glaubten sie nicht. Es war ihre Bezeichnung für ein selbst auferlegtes Fasten aus spirituellen Gründen – oder aus dem Ehrgeiz der Familien heraus, berühmt zu werden. In Zeiten furchtbarer Armut waren die Gaben Fremder etwas, das Familien wie der von Sarah Jacob das Überleben sicherte.

Heute gehen einige Historiker*innen davon aus, dass die Geschichten der „Fasting Girls“ die ersten übermittelten Berichte von Anorexia nervosa sind, besser bekannt als: Magersucht.

Wie lange kann ein Mensch ohne Essen überleben?

Wie viele Tage ein Mensch fasten kann, hängt zunächst von der allgemeinen körperlichen Verfassung ab: Hat die Person mehr Reserven, hält sie länger durch, da der Körper zum Beispiel auf Fette, Eiweiße und Blutzucker zurückgreifen kann.

Zum Überleben braucht man aber auch Stoffe, die schlecht gespeichert werden können. Gehirn und Herz ziehen zum Beispiel Energie aus Glucose, also Zucker – und die Zuckervorräte im Körper sind bereits nach einem Tag ohne Essen aufgebraucht.

Nach zwei bis drei Tagen baut der Körper darum Fett ab, um Energie zu gewinnen. Sobald das Fett aufgebraucht ist, werden auch Muskeln abgebaut. Der körperliche Verfall beginnt. Herz, Leber und Nieren können nicht mehr richtig arbeiten. Außerdem schwächelt das Immunsystem.

Zwischen 30 und 70 Tage können Menschen ohne Nahrung überleben – ein kräftiger Mann sicher länger als ein elfjähriges Mädchen. Länger als zwei Monate lang nicht zu essen und dennoch zu überleben, ist also tatsächlich unmöglich.

Netflixwoche Redaktion

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