Von Tony Soprano zu Saul Goodman: Der Aufstieg der Antihelden

Die Geschichte der Antihelden in Serien beginnt 1999. Mafiaboss Tony Soprano fährt in der fünften Folge der Serie Die Sopranos mit seiner Tochter Meadow von New Jersey nach Maine. Meadow, die gerade die High School abgeschlossen hat, will sich dort Universitäten ansehen. Doch was wie ein schöner Vater-Tochter-Ausflug beginnt, endet mit einem Mord. Tony entdeckt an einer Tankstelle einen anderen Mafioso, der vor Jahren ins Zeugenschutzprogramm gegangen ist: eine „Ratte“. Tony setzt seine Tochter daraufhin an einem College ab, beschattet den Mann und tut etwas, was bis dahin noch keine Hauptfigur aus einer prominenten Serie im Fernsehen getan hat: Er erdrosselt den Mann. Die Kamera ist dabei auf Tonys Gesicht gerichtet und filmt ihn in der Nahaufnahme. Wir können sehen, wie Tony die Augen vor Anstrengung zusammenkneift, wie er stöhnt und schnauft. Und wie der Mann langsam erstickt.

Die Zuschauer*innen wussten zwar schon seit der ersten Folge von Die Sopranos, dass Tony zur Mafia gehört. Dass er sein Geld mit Glücksspiel, Schutzgelderpressung und anderen Straftaten verdient. Und dass er schon Menschen umgebracht hat. Nur: Hören und Sehen sind zwei verschiedene Dinge. Erst in der fünften Folge sind die Zuschauer*innen live dabei, wenn Tony mordet. Dieser Moment gilt als die Geburtsstunde der Antihelden im TV. Bis heute sind die meisten Antihelden in Serien  nach wie vor Männer. Antiheldinnen - wie Claire Underwood in House of Cards - sind rar.

Vom Mafiaboss Tony Soprano führt eine direkte Linie zum wahrscheinlich schmierigsten Anwalt der Seriengeschichte: Jimmy McGill alias Saul Goodman aus Better Call Saul: Die Spin-off-Serie zu Breaking Bad, mit der es nach dem Midseason Break nun auf Netflix weitergeht. Denn: Ohne Tony Soprano hätte es Saul Goodman wahrscheinlich nie gegeben. Aber dazu gleich mehr.

Während im Kino gesoffen und gemordet wurde, mussten Serien lange familienfreundlich sein

Im Kino gab es schon lange vor Tony Soprano Antihelden. Da waren die alkoholkranken und dauerzynischen Privatdetektive im US-amerikanischen Film Noir der 1940er und 1950er Jahre. Da waren die Revolverhelden im Spätwestern der 1960er und 1970er Jahre, die gehurt, gesoffen und sich gegenseitig in den Rücken geschossen haben. Und da war Robert De Niro in Martin Scorseses Taxi Driver (1976), der als Vietnamkriegsveteran Travis Bickle durch die verdreckten Straßen New Yorks irrt, sich irgendwann eine 44er Magnum besorgt und in einem Kinderbordell ein Blutbad anrichtet. All diese Figuren sind Einzelgänger. Sie haben sich von der Gesellschaft entfremdet und das verloren, was wir einen „moralischen Kompass“ nennen.

Im Fernsehen wären solche Antihelden undenkbar gewesen. Denn Fernsehen musste vor allem eines sein: familienfreundlich. Klar, auch Al Bundy aus Eine schrecklich nette Familie war kein Heiliger. Im Gegenteil. Er war leicht reizbar, schnell überfordert und viel zu zynisch, um ein All-American-Bilderbuch-Familienvater zu sein. Doch eine Sache hätte auch Al Bundy nie getan: Jemanden umgebracht. Dazu brauchte es erst Tony Soprano.

Die Sopranos machten den Weg frei für Shows wie Peaky Blinders.

Von Tony Soprano zu Tommy Shelby

Sopranos-Macher David Chase hat in einem Interview erzählt, dass er die Mordszene fast nicht beim Sender durchbekommen hätte. Denn die Senderchefs befürchteten, dass die Zuschauer*innen von dem Mord so verstört sein könnten, dass sie abschalten würden. „Vier Folgen lang hast du einen der besten Seriencharaktere in der Geschichte des amerikanischen Fernsehens geschaffen. Mit dem Mord in der fünften Folge spülst du Tony die Toilette herunter“, hat man Chase gesagt. Doch der ließ sich nicht von seiner Idee abbringen.

Die Folge wurde gesendet und die Zuschauer*innen haben nicht abgeschaltet. Damit war zum ersten Mal der Beweis erbracht, dass Serienhelden auch abgrundtief böse Taten begehen können und die Zuschauer*innen trotzdem noch Lust haben, bei der nächsten Folge wieder einzuschalten.

David Chase und Tony Soprano haben damit das sogenannte „Golden Age of Television“ begründet und den Weg freigemacht für TV-Shows mit moralisch fragwürdigen Charakteren wie den englischen Gangster Tommy Shelby in Peaky Blinders, den Finanzberater Marty Byrde in Ozark und Walter White in Breaking Bad. Figuren, die manchmal gut, aber sehr oft auch böse handeln – und gerade deshalb viel komplexer sind als die Serienhelden, die es davor gab.

Warum Saul Goodman eine Sonderstellung unter den Antihelden einnimmt

Jimmy McGill, besser bekannt als Saul Goodman in Better Call Saul, gehört auch in die Reihe dieser Antiheld*innen. Aber er nimmt darin eine Sonderstellung ein. Dass Tony Soprano ein Mafiaboss ist, wissen wir schon nach den ersten Minuten von Die Sopranos. Und auch Walter White, der in Breaking Bad zwar erst nach und nach zum skrupellosen Drogenboss Heisenberg aufsteigt, bringt schon in der ersten Folge jemanden um. Wenn auch noch aus Notwehr. Jimmy hingegen ist ein Mensch, der eigentlich ein gutes Herz hat, aber zu oft den einfachen, kriminellen Weg wählt als den richtigen, legalen.

Anders als Tony und Walter White scheint Jimmy auch keinen allzu großen Spaß an seinen Straftaten zu haben und versucht manchmal sogar, Fehler wieder rückgängig zu machen: Wie im legendären Finale der dritten Staffel, als er es nicht erträgt, dass die Rentnerin Irene seinetwegen im Altenheim Sandpiper Crossing gemobbt wird. Wo Toni und Walter noch klassische Antihelden sind, die sich bewusst für ein Leben außerhalb des Gesetzes entscheiden, ist Jimmy ein Antiheld wider Willen. Und damit als Figur vielleicht sogar noch ein kleines Stück komplexer und vielschichtiger als seine Antiheldenvorgänger.

Wie wichtig Tony Soprano für die Geschichte des Fernsehens war, hat übrigens auch Breaking Bad-Macher Vince Gilligan einmal in einem Interview betont, als er gesagt hat: „Ohne Tony Soprano hätte es Walter White nie gegeben.“ Und wir können ergänzen: Ohne Walter White hätte es Jimmy McGill nie gegeben, den Antihelden wider Willen.

Netflixwoche Redaktion

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